Seit der Schließung der Schulen und der Ausgangsbeschränkungen Mitte März habe ich darüber nachgedacht, dieses Buch noch einmal zu lesen. Ich hatte mit einer Freundin darüber geredet, doch als sie meinte, sie liest es jetzt, da traute ich mich nicht. Ich fand es zu gruselig, zu nah an der Wirklichkeit. Aber jetzt … bin ich so weit. Hier weiß immerhin schon, wie es ausgeht.
Ich lese dieses Buch zum dritten oder vierten Mal. Und auch ohne Corona-Virus hätte ich es sicherlich früher oder später noch einmal gelesen. Es gibt einfach diese Bücher, die man im Leben immer wieder liest (jedenfalls ich tue das) – und dieses gehört dazu.
Warum? Was macht es so gut?
Ist es der Virus? Ja! Diese universelle Angst, dass die Regierungen dieser Welt irgendwo, in einem unterirdischen Laborbunker, in einer Wüste, auf einer Insel einen geheimen Supervirus (Waffe, Bombe, Roboter, Wesen, whatever) entwickeln und diesen aufgrund einer Panne plötzlich nicht mehr unter Kontrolle haben. Dieses Szenario wird in Literatur und Film tausendfach durchgespielt, aber selten so gut wie bei King. Aber das ist nur ein Grund von vielen, das Buch zigfach zu lesen.
Ein zweiter Grund sind Kings Landschaften. Mit wenigen Worten gelingt es ihm, dem Leser die amerikanischen Landschaften vor Augen zu führen. Und diese Geschichte betrifft das gesamte Land, die gesamten USA. Von Kalifornien nach New York. Von Arnette, Texas nach Atlanta, nach Maine. Und von dort wieder nach Westen, nach Kansas, nach Nebraska, nach Boulder, Colorado und nach Las Vegas. Von den Rändern geht es in die Mitte dieses Landes. Strände, Wüsten, Berge, Wälder, endlose Felder und staubige Straßen. All das ist Amerika. Und all das zeichnet er sehr liebevoll. Keins ist nicht besser als das andere. Es existiert nebeneinander und macht die Einzigartigkeit dieses Landes aus.
Ein weiterer Grund sind die Charaktere. Es sind viele. Und auch hier schafft er es mit wenigen Sätzen ihre Eigenheiten, ihre Stärken und ihre Schwächen zu zeigen. Sie versuchen gut zu sein, sie träumen, sie zweifeln, sie hadern mit sich und mit der Aufgabe, die Ihnen das Schicksal auferlegt. Einige nehmen diese Aufgabe an und wachsen daran, manche zerbrechen daran. Und wieder andere gehen lieber den vermeintlich einfachen Weg. Sie schließen sich dem schwarzen Mann an, der Personifizierung allen Bösens.
Und hier sind wir beim vierten Grund, das Buch wieder und wieder zu lesen: die fast unerträgliche Spannung. In dieser postapokalyptischen Welt folgen wir den Figuren und hoffen, dass sie sich für die richtige Seite entscheiden, dass sie es schaffen gut zu sein und zu bleiben, menschlich zu bleiben. Selbstverständlich gibt es neben dem personifizierten Bösen auch das Gute. Und all das gipfelt im ultimativen Kampf Gut gegen Böse – the Stand, das letzte Gefecht.
Zeigen Sie mir einen einzelnen Mann oder eine Frau, und Sie werden einen Heiligen oder eine Heilige sehen. Zeigen Sie mir zwei Menschen, und sie werden sich ineinander verlieben. Geben Sie mir drei, und sie werden das bezaubernde Ding erfinden, das wir » Gesellschaft« nennen. Geben Sie mir vier, und sie werden eine Pyramide bauen. Geben Sie mir fünf, und sie werden einen zum Paria stempeln. Geben Sie mir sechs, und sie werden das Vorurteil neu erfinden. Geben Sie mir sieben, und in sieben Jahren erfinden sie den Krieg neu. Der Mensch mag nach Gottes Ebenbild erschaffen worden sein, die menschliche Gesellschaft aber ganz sicherlich nach dem Ebenbild seines Gegenspielers, und sie will immer wieder nach Hause.
Was ist nun mit dem Virus?
Das Buch beginnt mit dem Ausbruch einer Supergrippe, Captain Trips wird sie genannt, gezüchtet in einem geheimen Militärlabor als biologische Waffe. Es gibt einen Unfall und es gibt eine winzige Lücke im Sicherheitssystem und es gibt einen (!) Mann, der mit seiner Frau und seinem Baby (, die er selbstverständlich retten will) von der Militärbasis flüchten kann. Und nun folgt King dem Virus durch das Land aus der kalifornischen Wüste nach Arnette in Texas. Und hier in dieser Kleinstadt folgt er dem Weg des Virus von Einwohner zu Einwohner und es verschont niemanden. Nicht die Armen und nicht die Reichen, Frauen, Kinder, Männer, Alte – einfach alle, ob nett oder fies, ob ruhig und beliebt oder heimtückisch und unbeliebt stecken sich an. Es beginnt mit einem harmlosen Husten, einer Erkältung, einer Sommergrippe und es eskaliert schnell. Die Behörden versuchen zu isolieren, zu evakuieren, setzen Menschen unter Quarantäne. Doch das Virus breitet sich zu schnell aus. Das Buch folgt dem Virus durch mehrere Ortschaften und Gemeinschaften und der Spur seiner Verwüstung. Schließlich landen wir in einem nahezu entvölkerten New York. Hier stromern die wilden Tiere des Zoos durch die Straßen und nur einige wenige Menschen haben überlebt, einige sind zu weich für diese Situation, einige zu hart, viele werden verrückt. Die Großstadt ist kein geeigneter Ort mehr, um sich durchzuschlagen.
Die Überlebenden beginnen sich zu bewegen, angezogen vom Guten oder Bösen. Sie erfahren von einander in gemeinsamen Träumen, finden einander und werden sich nach und nach der Tatsache bewusst, dass es mehr gibt in dieser Welt als nur die Menschen und dass sie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben.
Das Buch wurde 1978 erstmals veröffentlicht. Es spielt in einer dystopischen Zukunft 1990. Aber aufgrund der aktuellen Lage in der Welt ist es natürlich aktuell wie nie. Allerdings ist die globale Pandemie hier nur der Background für die eigentlich Handlung. Und bei der Beschreibung der Pandemie offenbart sich wieder Stephen Kings Stärke mit wenigen Sätzen beziehungsweise auf nur wenigen Seiten ein höchst komplexes Szenario treffend beschreiben zu können.
